Südkurier 6.10.22

Zeitzeuge - Herbert Zunftmeister: Bomber im Anflug auf Friedrichshafen

Hilzingen – Manche Ereignisse sind so traumatisch, dass sie ein Leben lang in Erinnerung bleiben, obwohl sie sich bereits in der frühesten Kindheit ereigneten. Für den Hilzinger Herbert Zunftmeister war es der vom ihm mit knapp eineinhalb Jahren miterlebte Luftangriff auf sein Heimatdorf Liggeringen. Dieser war dann auch am Stammtisch der elterlichen Gastwirtschaft „Zum Adler“ noch lange Mittelpunkt der Gespräche. Letztere hörte der kleine Bub aus einem Versteck oft mit.

Liggeringen lag in der Einflugschneise der Bomberverbände nach Friedrichshafen. Dort befanden sich kriegswichtige Industriebetriebe. In der Nacht des 21. Juni 1943 wurde Liggeringen wieder einmal von britischen Maschinen überflogen. Eines der Flugzeuge hatte laut Zunftmeisters Wissen Motorprobleme, drehte ab und warf seine ganz Bombenlast über Liggeringen ab. Es gab acht Tote und eine Reihe von Verletzten. 25 Häuser wurden total zerstört, 50 andere beschädigt. In Zunftmeisters Elternhaus waren alle Fenster und Türen kaputt, im Ostgiebel steckte ein Bombensplitter. Sein Vater habe lange sehr darunter gelitten, dass er zwei in einem nahegelegenen Haus verschüttete junge Mädchen nicht retten konnte, weil er sich selbst vor einer einstürzenden Wand in Sicherheit bringen musste, schildert Zunftmeister die Geschehnisse. Er selbst war noch ein Kleinkind, an die Bombardierung kann er sich nicht mehr selbst entsinnen. Aber an den Tag danach. Da habe er das Bild vor Augen, wie sämtliche Strommasten und Stromkabel auf der Erde lagen, erzählt der Zeitzeuge. Es sei ihm erzählt worden, dass er, das Baby, das noch nicht richtig sprechen konnte, bei den folgenden Luftalarmen stets „Sieche Bieber“ gebabbelt habe. Siech ist das Dialektwort für verdammt, und Bieber war sein kleinkindlicher Versuch, „Flieger“ zu sagen, erklärt Zunftmeister.

Noch eine weitere eigene Erinnerung ist ihm geblieben. Ein Tieffliegerangriff, als er mit Vater und Großvater auf dem Feld gewesen sei. Sein Großvater habe ihn, den Dreijährigen, in einen Graben geschubst und dann mit seinem eigenen Körper geschützt. Die Schüsse habe er heute noch in den Ohren. Die Zeit der französischen Besatzung verbindet Zunftmeister mit meist positiven Erlebnissen: Das erste Stück Schokolade seines Lebens aus der Hand eines Franzosen zum Beispiel.

Zur Serie: Vor 77 Jahren hat der Zweite Weltkrieg ein Ende gefunden. Die Menschen in Deutschland leben seither im Frieden. Es gibt aber eine Generation, die es noch anders erlebt hat: Die Kinder, die im sogenannten Dritten Reich geboren wurden und aufgewachsen sind. Heute sind sie Senioren. Einige von ihnen fanden sich als wichtige Zeitzeugen bereit, mit den SÜDKURIER-Lesern ihre Erinnerungen an die Kriegs- und Nachkriegsjahre zu teilen. Einer dieser Zeitzeugen ist Herbert Zunftmeister

SÜDKURIER Digitale Zeitung für Desktop – Online-Zugang | SÜDKURIER (suedkurier.de)